Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (Hrsg.): Bildung neu denken!  
   
    Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) (Hrsg.): Bildung neu denken! Das Zukunftsprojekt. Leske & Budrich. 2003

Die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft hat u.a. die Prognos AG damit beauftragt, eine Studie über das künftige Bildungs-system zu erstellen. „Künftig“ meint in diesem Fall das Jahr 2020 als Zeithorizont. Während die Prognos AG das empirische Datenmaterial für die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen 2020 bereitstellte, hat ein 70-köpfiger Expertenkreis auf dieser Basis Empfehlungen zur Ausgestaltung des Bildungssystems generiert. Dieter Lenzen (Erziehungswissenschaftler und Präsident der Freien Universität Berlin) hat für diese Studie die Gesamtredaktion übernommen.
Da es im Bereich der Bildung inzwischen Studien und Empfehlungen wie Sand am Meer gibt, stellt sich die Frage, was das Konzept denn Neues an Reformen zu bieten hat. Um es vorweg zu nehmen – eine ganze Menge!
Die Studie ist ein „ganzheitlicher“ Ansatz – d.h. es analysiert das gesamte deutsche Bildungssystem im gesamtgesellschaftlichen Kontext, über die gesamten Lebensphasen hinweg. Letztere umfassen nicht nur mehr das Kindes- und Jugendalter, sondern auch das „frühe, mittlere und späte Erwachsenenalter“. An die jeweilige Lebens- und Lernphasen sind dann konkrete Empfehlungen gebunden. Während die Analyse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen etwa ein Drittel der Studie ausmacht, fallen die anderen zwei Drittel fast komplett auf die Empfehlungen. Eine Einleitung sowie ein Literatur- und Experten-verzeichnis ergänzen den Band.
Dreh- und Angelpunkt der Studie ist der Zukunftsbezug – es werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Jahres 2020 antizipiert. Deutschland wird aus dieser Perspektive starken Veränderungsprozessen unterliegen, so dass aus Sicht der Experten augenblicklich damit begonnen werden muss, die Reformmaßnahmen einzuleiten. Die dringendste Herausforderung vor der Deutschland steht, ist der demographische Wandel. Dies betrifft nicht nur das Renten- und Gesundheitswesen, sondern vordringlich das Bildungssystem:
„Ab 2010 sinkt das gesamte Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland.“ (2020 wird über ein Drittel der Erwerbsbevölkerung über 50 Jahre alt sein – 2002 waren es 22%; im selben Zeitraum sinkt der Anteil der 30-39-Jährigen von 30% auf 23%). In Zukunft werden wir einen gravierenden Mangel an Höherqualifizierten haben. Bildung – so wird argumentiert – ist der einzige Zukunftsfaktor, der uns helfen kann, der „demographischen Katastrophe“ zu begegnen. Aus diesem Grund zielt das Konzept auf eine Verdoppelung der Hochschulabsolventen, eine Mobilisierung der nicht berufsbildungsfähigen Schüler (derzeit ca. 20 %) und eine berufliche Weiterbildung, die alle Erwerbsfähigen erreicht. Das Konzept selbst stellt einige „Highlights“ heraus: mögliche Einschulung mit vier Jahren und ein mögliches Schulpflichtende mit 14 Jahren; Ganztagsschulen und Ferienunterricht, Zusammenlegung von Haupt- und Realschule, Qualitätsüberprüfung von Lehrpersonal und leistungsorientierte Bezahlung, Beteiligung des Einzelnen an den Kosten lebenslangen Lernens.
Insbesondere der letzte Punkt macht deutlich, dass das Konzept auch nur als ein „ganzheitliches“ zu verstehen ist und einzelne Empfehlungen nicht isoliert betrachtet werden können. Neben dem Einzelnen treten nach wie vor der Staat und auch der Arbeitsplatzgeber als Finanziers von Bildungsangeboten auf. Dennoch wird für Studiengebühren plädiert – allerdings unter der Voraussetzung, dass sich eine grundsätzliche Steuerentlastung von Einzelpersonen durchsetzt. Bildung sollte dann zwar „was kosten“, aber die Kosten sollten dann einerseits finanzierbar und andererseits im Hinblick auf die Bildungsbiographie wählbar sein.
Apropos Kosten: Die Autoren sind sich bewusst, dass es ein „neues Bildungssystem nicht zum Nulltarif gibt. Es wird rund 30% teurer sein als das heutige System“. Sie fordern eine Anhebung der Bildungsausgaben über den OECD-Standard hinaus (von 4,5% gegenüber 5,3% auf bis zu 6% des BIP).
Nach dem Anspruch auf ein „ganzheitliches Konzept“ könnte man der Studie spätestens an dieser Stelle Allmachtsfantasien oder Naivität vorwerfen. Der Punkt ist jedoch, dass sie Aufgrund der Antizipation des Jahres 2020 und der darauf basierenden Argumentation gewissermaßen „Recht haben“: Die empirischen Daten sind keine Spinnerei, sondern die Generationen der Erwerbstätigen im Jahr 2020 sind heute schon geboren. Was nützt ein „kleineres“ Konzept, wenn es keine Bezüge zum demographischen Wandel stiftet, das Bildungssystem aber mit diesen Problemen zwangsweise konfrontiert wird?
Das „Zukunftsprojekt Bildung neu denken“ ist fast ein reformerischer Gewaltakt und setzt genau da an, wo es wehtut, aber auch dort wo es unumgänglich ist. Vorzuwerfen ist der Studie eigentlich nur, dass sie an vielen Punkten noch zu unscharf ist. Wenn der demographische Wandel schon so ins Zentrum gerückt wird, warum bleibt dann die Migrationsproblematik nahezu unangestastet? Wenn es um Standardisierungen und Qualitätskontrollen geht, warum taucht dann die Expertise des BMB+F „Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards“ noch nicht einmal im Literaturverzeichnis auf? Wenn von „Basiskompetenzen“ und „Internationalisierung“ die Rede ist, warum werden wegweisende Papiere der OECD zu den „Schlüsselkompetenzen“ nicht berücksichtigt? Es bleibt zu hoffen, dass der Nachholbedarf an diesen Stellen in folgenden Bänden noch eingeholt wird.
Abschließend noch ein weiterer Kritikpunkt: Dem Konzept mangelt es an vielen Stellen schlicht an der sorgfältigen Ausformulierung wichtiger Gedankengänge, Zusammenhänge und Argumentationslinien. Das zeigt sich unter anderem daran, dass das Konzept sehr viele Spiegelstriche enthält und ihm damit auch ein gewisser Workshopcharakter anhaftet.
Nichts desto Trotz liefert das Konzept äußerst weitreichende, neue und auch mutige Reformempfehlungen, dessen schlag-kräftiger Argumentationslogik sich kein verantwortungsbewusster Politiker entziehen kann.

- Ausgezeichnet-

Jan Gregersen

Links & Downloads:

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